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Gespräch mit Herrn de Saci über Epiktet und Montaigne Teil III

Er sagt, Gott habe dem Menschen die Mittel gegeben, allen seinen Verpflichtungen nachzukommen; diese Mittel seien in unserer Macht; man müsse das Glück bei den Dingen suchen, die in unserer Macht seien, denn Gott habe sie uns ja zu diesem Zweck gegeben; man müsse erkennen, was es an Freiem in uns gebe; die Güter, das Leben und die allgemeine Wertschätzung seien nicht in unserer Macht und führen also auch nicht zu Gott; den Geist aber könne man nicht zwingen, etwas zu glauben, was er als falsch erkenne, und auch nicht den Willen, etwas zu lieben, wovon er wisse, daß es ihn unglücklich mache; diese beiden Kräfte seien also frei, und durch sie könnten wir uns vollkommen machen;

durch diese Kräfte könne der Mensch vollkommen Gott erkennen, ihn lie ben, ihm gehorchen, ihm gefallen, sich selbst von allen Lastern heilen, alle Tugenden annehmen, sich somit heilig und zum Gefährten Gottes machen. Diese Prinzipien eines teuflischen Hochmuts bringen ihn zu anderen Irrtümern, wie etwa: daß die Seele ein Teil der göttlichen Substanz sei; daß Schmerz und Tod keine Übel seien; daß man sich töten dürfe, wenn man so sehr verfolgt werde, daß man glauben müsse, Gott rufe uns; und andere mehr.

Was nun Montaigne angeht, über den ich Sie auch unterrichten soll, Monsieur, so bekennt er sich, da er in einem christlichen Staat geboren wurde, zur katholischen Religion, und in dieser Hinsicht hat er nichts Besonderes an sich. Da er indes herausfinden wollte, welche Moral von der Vernunft ohne das Licht des Glaubens vorgeschrieben werden müßte, hat er seine Prinzipien von dieser Voraussetzung abgeleitet; und indem er so den Menschen von jeder Offenbarung getrennt betrachtet, urteilt er folgendermaßen. Er setzt alle Dinge einem umfassenden und so allgemeinen Zweifel aus, daß dieser Zweifel sich selbst mit sich reißt, das heißt, er zweifelt, ob er zweifelt, und da er sogar an dieser letzten Voraussetzung zweifelt, dreht sich seine Ungewißheit in einem stetigen und ruhelosen Kreis um sich selbst, wobei er sich gleichermaßen gegen jene wendet, die versichern, alles sei ungewiß, wie gegen jene, die versichern, alles sei nicht ungewiß, weil er nichts als sicher anerkennen will. In diesem Zweifel, der an sich selbst zweifelt, und in dieser Unwissenheit, die nichts von sich selbst weiß und die er seine ›maîtresse forme‹ nennt, besteht das Wesen seiner Anschauung, die er mit keinem positiven Begriff ausdrücken konnte. Wenn er nämlich sagt, daß er zweifle, so verrät er ja sich selbst, indem er wenigstens als sicher anerkennt, daß er zweifelt; und da dies ausdrücklich seiner Absicht widerspricht, konnte er sich nur durch eine Frage verständlich machen, so daß er, weil er nicht sagen will: ›Ich weiß nicht‹, statt dessen sagt: ›Was weiß ich?‹; daraus macht er seinen Sinnspruch und setzt ihn über die zwei Schalen einer Waage, die sich in einem vollkommenen Gleichgewicht befinden, während sie die Widersprüche wägen: Das heißt, er ist ein reiner Pyrrhoniker. Auf diesem Prinzip beruhen alle seine Abhandlungen und Essais; und das als einziges will er fest begründen, wenn er auch seine Absicht nicht immer zu erkennen gibt. Dabei vernichtet er unmerklich alles, was unter den Menschen als das Sicherste gilt, nicht etwa, um das Gegenteil mit einer Gewißheit zu begründen, die er ja gerade als einziges ablehnt, sondern allein, um zu zeigen, daß der Schein beiden Seiten gleichermaßen günstig sei und man daher nicht wisse, was man zur Grundlage seines Glaubens machen solle.

In diesem Sinne verspottet er alle als sicher geltenden Behauptungen: Zum Beispiel bekämpft er jene, die geglaubt haben, durch die Vielzahl und die angebliche Gerechtigkeit der Gesetze ein sehr wirksames Mittel gegen die Rechtsstreitigkeiten in Frankreich einzuführen: Als könnte man die Zweifel, aus denen Prozesse entstehen, an der Wurzel abschneiden und als gäbe es Dämme, die den Strom der Ungewißheit aufhalten und die Mutmaßungen unterdrücken könnten!


"Gespräch mit Herrn de Saci über Epiktet und Montaigne"



Gespräch mit Herrn de Saci über Epiktet und Montaigne Teil IV

Dort, wo er sagt, es bleibe sich gleich, ob man die Entscheidung seines Prozesses dem erstbesten Vorübergehenden oder Richtern, die mit diesen zahlreichen Verordnungen ausgerüstet seien, anvertraue, erhebt er nicht den Anspruch, daß man die Staatsordnung verändern müsse, soviel Ehrgeiz hat er nicht; und er möchte seine Meinung auch nicht als besser hinstellen, er hält keine einzige für gut. Damit will er lediglich die Nichtigkeit der am allgemeinsten anerkannten Ansichten beweisen; und er zeigt deshalb, daß die Aufhebung aller Gesetze die Zahl der Streitfälle viel eher verringern würde als

dieser Wust von Gesetzen, der nur dazu diene, jene Zahl zu erhöhen, weil Streitigkeiten in dem Maße zunehmen, wie man sie untersuche; daß die Unklarheiten sich vermehren, wenn man sie kommentiere, und daß das sicherste Mittel, um den Sinn einer Abhandlung zu begreifen, darin bestehe, sie nicht zu prüfen und sie so aufzufassen, wie es dem ersten Augenschein entspreche: Wenn man sie auch nur ein wenig näher untersuche, verfliege die ganze Klarheit. Ebenso beurteilt er alle Handlungen der Menschen und Geschichtsepisoden aufs Geratewohl bald auf eine Art und bald auf eine andere, wobei er seinem ersten Eindruck widerstandslos folgt, ohne sein Denken den Regeln der Vernunft zu unter werfen, die nur falsche Maßstäbe habe; es begeistert ihn, an seinem eigenen Beispiel die in ein und demselben Geist vorhandenen Widersprüche zu zeigen. Seiner ganz unabhängigen Geisteshaltung gemäß ist es ihm vollkommen gleichgültig, ob er sich im Wortstreit durchsetzt oder nicht, da der eine wie der andere Fall ihm stets als Mittel dienen kann, um die Haltlosigkeit der Meinungen zu zeigen; er findet ja in diesem allumfassenden Zweifel eine derart vorteilhafte Stütze, daß er sich durch seinen Sieg wie durch seine Niederlage gleichermaßen darin bestärkt.

Auf dieser Grundlage, so schwankend und unsicher sie auch ist, bekämpft er mit unbeugsamer Entschlossenheit die Ketzer seiner Zeit wegen deren Überzeugung, als einzige den wahren Sinn der Heiligen Schrift zu kennen; und davon ausgehend schleudert er außerdem noch mächtigere Blitze gegen die abscheuliche Glaubenslosigkeit derjenigen, die sich zu der Behauptung hinreißen lassen, es gebe keinen Gott. Er greift sie in der Apologie des Raimundo de Sabunde besonders hart an; und da er findet, daß sie freiwillig auf alle Offenbarung verzichtet und sich allein auf ihr natürliches Erkenntnisvermögen verlassen haben, während sie jeden Glauben ablegten, fragt er sie, auf Grund welcher Autorität sie es unternehmen, über dieses höchste Wesen zu urteilen, das seiner eigenen Definition zufolge unendlich ist - sie, die in Wahrheit nichts von der Natur erkennen! Er fragt sie weiter, auf welche Prinzipien sie sich stützen; er drängt sie, diese darzulegen. Er prüft all jene, die sie vorbringen können, und seine ihn auszeichnende Begabung erlaubt es ihm, sie so weit zu ergründen, daß er die Nichtigkeit all derer beweist, die als die natürlichsten und sichersten gelten. Er fragt, ob die Seele irgend etwas erkennt; ob sie sich selbst erkennt; ob sie Substanz oder Akzidens, Körper oder Geist ist; was jeder von diesen Teilen ist und ob es etwas gibt, was keiner von diesen Ordnungen angehört; ob sie ihren eigenen Körper erkennt; was Materie ist; ob sie die zahllose Vielfalt der Körper, wenn man ihr solche vorgeführt hat, auseinanderhalten kann; wie sie Gedanken zu bilden vermag, wenn sie materiell ist; und wie sie mit einem besonderen Körper vereinigt sein und dessen Leidenschaften mitempfinden kann, wenn sie geistig ist; wann ihre Existenz begonnen hat - gemeinsam mit dem Körper oder zuvor; ob sie mit ihm endet oder nicht; ob sie sich niemals täuscht; ob sie weiß, wann sie irregeht, da das Wesen eines Fehlurteils ja darin besteht, das nicht zu erkennen; ob sie bei solchen Unklarheiten nicht ebenso fest glaubt, daß zwei und drei sechs seien, wie sie hernach weiß, daß es fünf sind; ob die Tiere vernünftig überlegen, denken und sprechen; und wer entscheiden kann, was die Zeit ist, was der Raum oder die Ausdehnung ist, was die Bewegung ist, was eine bestimmte Einheit ist - alles Dinge, die uns umgeben und die uns völlig unerklärlich bleiben; was Gesundheit, Krankheit, Leben, Tod, Gutes, Böses, Gerechtigkeit und Sünde sind, von denen wir zu jeder Zeit sprechen; ob wir in uns Prinzipien für das Wahre haben und ob diejenigen, an die wir glauben und die man Axiome oder allgemeine Begriffe nennt, weil sie allen Menschen gemeinsam sind, mit der wesentlichen Wahrheit übereinstimmen; und - da wir ja allein durch den Glauben wissen, daß ein allgütiges Wesen uns solche gegeben hat, die wahrhaftig sind, indem es uns so geschaffen hat, daß wir die Wahrheit erkennen können - wer ohne diese Erleuchtung wissen wird, ob sie aufs Geratewohl gebildet und darum nicht doch ungewiß sind oder ob sie von einem falschen und bösen Wesen gebildet wurden und dieses uns deshalb solche gegeben hat, die falsch sind, um uns zu verführen; damit zeigt er, daß Gott und das Wahre unzertrennlich sind und daß, wenn eins von beiden existiert oder nicht, wenn es ungewiß oder gewiß ist, das andere zwangsläufig ebenso sein muß. Wer weiß also, ob der gewöhnliche Menschenverstand, den wir für den Richter der Wahrheit halten, von jenem, der ihn geschaffen hat, dieses Wesen erhielt? Wer weiß weiterhin, was Wahrheit ist, und wie kann man sicher sein, sie zu besitzen, ohne daß man sie kennt? Wer weiß gar, was das Sein ist, das sich nicht definieren läßt, weil es nichts Allgemeineres gibt und man, um es zu erklären, sich zunächst gerade desselben Wortes bedienen müßte, indem man sagte: ›Das ist das Sein ...‹? Und da wir nicht wissen, was Seele, Körper, Zeit, Raum, Bewegung, Wahrheit und das Gute sind, nicht einmal, was das Sein ist, und da wir auch nicht die Vorstellung erklären können, die wir uns davon bilden - wie können wir dann sicher sein, daß diese Vorstellung bei allen Menschen die gleiche ist, weil wir ja hierfür kein anderes Merkmal als die Einheitlichkeit der Wirkungen haben, die nicht immer ein Zeichen für die Einheitlichkeit der Ursachen ist?


"Gespräch mit Herrn de Saci über Epiktet und Montaigne"



Gespräch mit Herrn de Saci über Epiktet und Montaigne Teil II

Denn diese können sehr wohl unterschiedlich sein und dennoch zu denselben Schlußfolgerungen führen; jeder weiß ja, daß das Wahre oft aus dem Falschen geschlossen wird.

Sehr gründlich untersucht er schließlich die Wissenschaften und die Geometrie, deren Ungewißheit er bei den Axiomen und den Begriffen zeigt, die sie nicht definiert, wie etwa Ausdehnung, Bewegung usw., und die Ungewißheit der Naturkunde zeigt er auf sehr viele andere Arten, ebenso die der Medizin mit einer Unzahl von Beispielen, und er prüft die Geschichte, die Moral, die Rechtswissenschaft und alles übrige, so daß man am Ende überzeugt ist, daß wir jetzt nicht besser als in irgendeinem Traum denken, aus dem wir erst mit dem Tode erwachen und während desselben wir ebensowenig die Prinzipien der Wahrheit wie während des natürlichen Schlafs besitzen. Daher schmäht er die des Glaubens beraubte Vernunft so hart und grausam, daß er sie zweifeln läßt, ob sie selbst vernünftig ist, ob die Tiere es sind oder nicht, ob sie es in höherem oder geringerem Maße sind, und damit läßt er sie aus der erhabenen Höhe herabsteigen, die sie sich angemaßt hat, und stellt sie aus Gnade den Tieren gleich, ohne daß er ihr erlaubt, aus dieser Ordnung herauszutreten, ehe sie nicht von ihrem Schöpfer selbst über ihre Stellung, die ihr unbekannt ist, unterrichtet wird, und dabei droht er ihr, sie, wenn sie murrt, tiefer als alles andere zu setzen, was ebenso leicht wie das Gegenteil ist, und gleichwohl gibt er ihr nur die Möglichkeit zum Handeln, wenn sie hierdurch mit aufrichtiger Demut ihre Schwäche entdeckt, anstatt sich in törichter Vermessenheit selbst zu erhöhen.«

 

Da Herr de Saci glaubte, in einem neuen Land zu leben und eine neue Sprache zu vernehmen, sagte er zu sich selbst diese Worte des heiligen Augustinus: »O Gott der Wahrheit! Sind jene, die derart scharfsinnige Überlegungen kennen, dir darum angenehmer?« Er beklagte jenen Philosophen, der sich überall an den Dornen steche und reiße, die er selbst sich schaffe, wie Augustinus es von sich gesagt habe, als er in diesem Zustand war. Nachdem er also recht lange geduldig überlegt hatte, sagte er zu Herrn Pascal:

 

»Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet, Monsieur: Ich bin sicher, wenn ich Montaigne ausführlich gelesen hätte, würde ich ihn nicht so gut kennen wie nach diesem Gespräch, das ich gerade mit Ihnen geführt habe. Jener Mann müßte wünschen, daß man ihn nur durch die Berichte kennte, die Sie von seinen Schriften geben; und er könnte mit Augustinus sagen: Ibi me vide, attende. [»Dort sieh mich, gib acht!«] Ich glaube, daß jener Mann unzweifelhaft Geist hatte, doch weiß ich nicht, ob Sie durch diese von Ihnen vorgenommene und vollkommen zutreffende Verknüpfung seiner Prinzipien ihm nicht ein wenig mehr Geist zuschreiben, als er hat. Sie können sich vorstellen, daß man mir - da ich mein Leben so und nicht anders verbracht habe - kaum geraten hat, diesen Autor zu lesen, dessen Werke insgesamt nichts von dem haben, was wir nach der Regel des heiligen Augustinus hauptsächlich bei unserer Lektüre suchen müssen, denn die Äußerungen jenes Autors scheinen nicht aus einer sehr demütigen und frommen Grundhaltung zu kommen. Man würde es jenen früheren Philosophen, die man Akademiker nannte, verzeihen, daß sie alles in Zweifel gezogen haben. Doch wozu hatte Montaigne es nötig, sich den Geist zu erheitern, indem er eine Lehre erneuerte, die heutzutage den Christen als eine Narrheit gilt? Dieses Urteil fällt der heilige Augustinus über jene Leute. Ihm folgend kann man nämlich über Montaigne sagen ...: ›Von allem, was er vorbringt, sondert er den Glauben ab; daher müssen wir, die wir den Glauben haben, ebenso alles absondern, was er vorbringt.‹ Ich tadele durchaus nicht den Geist dieses Autors, der eine große Gottesgabe ist; doch er konnte sich seiner besser bedienen und ihn lieber Gott als dem Teufel darbringen. Wozu dient ein Gut, wenn man es so schlecht nutzt? ›Quid proderat‹ [»Wofür war es nützlich«] usw.?, sagte vor seiner Bekehrung dieser heilige Kirchenlehrer über sich selbst. Sie sind glücklich, Monsieur, weil Sie sich über jene Leute erhoben haben, von denen man sagt, sie seien Doktoren, die sich in die Trunkenheit der Wissenschaft gestürzt haben, deren Herz aber keine Wahrheit enthalte. Gott hat in Ihrem Herzen andere süße Freuden und andere Zuneigungen ausgegossen als jene, die Sie bei Montaigne fanden. Er hat Sie von jener gefährlichen Lust abgebracht, a jucunditate pestifera [»vom unheilbringenden Vergnügen«], wie der heilige Augustinus sagt, der Gott dafür dankt, daß er die Sünden vergeben hat, die er begangen hatte, als er zu großes Gefallen an der Eitelkeit fand. Der heilige Augustinus ist hierin um so glaubwürdiger, als er zuvor selbst derartige Ansichten vertreten hatte; und wie Sie von Montaigne sagen, daß er mit diesem allumfassenden Zweifel die Ketzer seiner Zeit bekämpft, so hat auch der heilige Augustinus auf Grund des gleichen Zweifels der Akademiker die Ketzerei der Manichäer aufgegeben. Sobald er Gott angehörte, entsagte er diesen Eitelkeiten, die er eine Gotteslästerung nennt, und tat, was er von einigen anderen berichtet hatte. Er erkannte, mit welcher Weisheit der heilige Paulus uns warnt, damit wir uns nicht von derartigen Reden verführen lassen. Denn er gesteht, daß es darin ein gewisses mitreißendes Vergnügen gibt: Manchmal halte man Dinge nur für wahrhaftig, weil diese beredt vorgetragen werden. Das sind gefährliche Speisen, sagt er, die man indes auf schönen Schüsseln darbringt; doch diese Speisen nähren nicht das Herz, vielmehr leeren sie es aus. Man gleicht dann Schlafenden, die im Traum zu essen glauben: Diese eingebildeten Speisen lassen sie so leer, wie sie waren.«

 

Herr de Saci sagte Herrn Pascal noch dergleichen mehr: Hierauf entgegnete ihm Herr Pascal, wenn er ihm das Kompliment mache, er kenne Montaigne gründlich und wisse ihn gut auszulegen, so könne er Herrn de Saci ohne Komplimente sagen, daß dieser Augustinus noch weitaus gründlicher kenne und ihn noch weitaus besser auszulegen wisse, obgleich das wenig vorteilhaft für den armen Montaigne ausfalle. Er bestätigte Herrn de Saci, daß er über die Zuverlässigkeit aller gerade von diesem vorgebrachten Gründe zutiefst erbaut sei; da er indes noch ganz von seinem Autor eingenommen war, konnte er sich nicht zurückhalten und sagte:

 

»Ich gestehe Ihnen, Monsieur, ich kann nicht ohne Freude sehen, wie bei diesem Autor die hochmütige Vernunft mit ihren eigenen Waffen so unausweichlich gedemütigt wird und wie dieser überaus blutige Aufruhr des Menschen gegen den Menschen ihn aus der Gemeinschaft mit Gott, zu der er sich durch die Grundsätze (seiner schwachen Vernunft) erhoben hatte, auf die Stufe der tierischen Natur herabstürzt; und von ganzem Herzen hätte ich das Werkzeug einer derart bedeutenden Vergeltung geliebt, wenn er, der doch durch den Glauben ein Jünger der Kirche war, die Regeln der Moral befolgt hätte, indem er die Menschen, die er in so nützlicher Weise gedemütigt hatte, veranlaßt hätte, nicht durch neue Verbrechen jenen zu erzürnen, der als einziger vermag, sie von den Verbrechen zu erretten, die sie, wie er sie überführt hat, nicht einmal zu erkennen vermögen.

Doch ganz im Gegenteil handelt er als ein Heide auf die folgende Weise. Aus diesem Prinzip, daß, wie er sagt, ohne den Glauben alles ungewiß sei, und aus der Erwägung, wie lange man schon nach dem Wahren und dem Guten suche, ohne der inneren Ruhe einen Schritt näher gekommen zu sein, schließt er, daß man den anderen diese Sorge überlassen und sich unterdessen ruhig verhalten und über die Probleme leicht dahingleiten solle, damit man nicht in ihnen versinke, wenn man bei ihnen Halt suche; und man solle das Wahre und das Gute so auffassen, wie es dem ersten Augenschein entspreche, ohne sie einzuzwängen, weil sie so wenig Festigkeit haben, daß sie, so schwach man auch nur die Hand zudrücke, durch die Finger schlüpfen und die Hand leer lassen. Darum richte er sich nach dem Zeugnis der Sinne und den allgemeinen Begriffen, denn er müßte ja sich selbst Gewalt antun, um sie zu verleugnen, und er wisse nicht, ob er dabei gewinnen würde, da ihm nun einmal unbekannt sei, wo sich das Wahre befinde. Daher meide er Schmerz und Tod, weil sein Instinkt ihn dazu treibe, und aus demselben Grunde wolle er sich ihnen auch nicht widersetzen, doch ohne daraus zu schließen, daß sie wirkliche Übel seien, denn er traue diesen natürlichen Regungen der Furcht nicht allzusehr, da man ja auch solche des Vergnügens empfinde, von denen man behaupte, sie seien böse, obgleich die Stimme der Natur das Gegenteil sage. Daher habe er in seinem Verhalten nichts Abartiges; er handle wie die anderen; und alles, was sie in dem törichten Gedanken tun, dem wahren Gut zu folgen, das tue er auf Grund eines anderen Prinzips, das darin bestehe - weil die Wahrscheinlichkeit auf beiden Seiten gleich schwer wiege -, daß das Beispiel und die Bequemlichkeit die beiden Gegengewichte seien, die ihn mit sich ziehen.

Er folgt also den Sitten seines Landes, weil er der Gewohnheit nachgibt: Er steigt auf sein Pferd wie jemand, der kein Philosoph wäre, weil es ihn erträgt, aber er glaubt nicht, daß dies sich rechtlich begründen lasse, da er ja nicht weiß, ob jenes Tier nicht im Gegenteil das Recht hat, sich seiner zu bedienen. Er tut sich auch einigen Zwang an, um gewisse Laster zu vermeiden; und er wahrt sogar die eheliche Treue wegen des Leids, das aus den Ausschweifungen erwächst; wenn aber das Leid, das er auf sich nehmen würde, über das hinausgeht, das er vermeidet, so verhält er sich weiter ruhig, da Bequemlichkeit und Sorglosigkeit bei allem die Richtschnur seines Handelns sind. Er weist deshalb jene stoische Tugend weit von sich, die man mit strenger Miene, wildem Blick, gesträubten Haaren, runzliger und schweißbedeckter Stirn, in angestrengter und gespannter Haltung, fern von den Menschen, düster schweigend und allein auf einer Felsspitze darstellt: ein Gespenst, wie er sagt, mit dem man Kinder erschrecken könne und das dabei nichts anderes tue, als mit beständigen Mühen nach der Ruhe zu suchen, zu der es nie gelange. Seine eigene Tugend ist unbefangen, umgänglich, lustig, gutgelaunt und sozusagen mutwillig; sie folgt dem, was sie entzückt, und treibt lässig ihre Späße mit den guten oder schlechten Wechselfällen, während sie auf einem bequemen Ruhelager weich gebettet ist, und dort zeigt sie den Menschen, die unter solchen Mühen das Glück suchen, daß dieses Glück nur da ist, wo sie sich der Muße hingibt, und daß die Unwissenheit und die Gleichgültigkeit zwei sanfte Ruhekissen für einen gescheiten Kopf sind, wie er selbst sagt.

Ich darf Ihnen nicht vorenthalten, Monsieur, was ich, als ich diesen Autor las und ihn mit Epiktet verglich, gefunden habe: Sie waren gewiß die beiden größten Verteidiger der beiden berühmtesten Philosophenschulen der Welt und der einzigen, die mit der Vernunft übereinstimmen, denn man kann ja nur einem von diesen zwei Wegen folgen, das heißt: Entweder gibt es einen Gott, und dann sieht der Mensch in ihm sein höchstes Gut; oder Gott ist ungewiß, und dann gilt das auch für das höchste Gut, weil der Mensch unfähig ist, es zu erreichen.

Ich habe mit außerordentlichem Vergnügen an diesen unterschiedlichen Gedankengängen festgestellt, worin die einen und die anderen zu einer gewissen Übereinstimmung mit der wahrhaftigen Weisheit gelangt sind, die sie erkennen wollten. Wenn es nämlich angenehm ist, den Drang der Natur zu beobachten, Gott in allen ihren Werken darzustellen, an denen man ja einige von seinen Wesensmerkmalen wahrnimmt, weil sie seine Abbilder sind, wieviel rechtmäßiger ist es dann, in den geistigen Schöpfungen jene Anstrengungen zu betrachten, die von den großen Geistern unternommen werden, um sich nach dem Beispiel der wesentlichen Tugend zu richten, selbst wenn sie sich ihr entziehen, und festzustellen, worin sie zu ihr gelangen und worin sie von ihr abirren, wie ich es in dieser Untersuchung darlegen wollte!

Zwar haben Sie mir vorhin bewundernswert deutlich gezeigt, Monsieur, welch geringen Nutzen die Christen aus diesen philosophischen Studien ziehen können. Mit Ihrer Erlaubnis werde ich trotzdem nicht darauf verzichten, Ihnen meine Gedanken noch weiter mitzuteilen, wobei ich jedoch bereit bin, mich von allen Einsichten loszusagen, die nicht von Ihnen kommen: Hierdurch werde ich den Vorteil haben, daß ich entweder selbst die Wahrheit glücklich entdeckt habe oder daß ich sie von Ihnen zuverlässig erhalte. Wie mir scheint, besteht die Quelle der Irrtümer dieser beiden Philosophenschulen darin, nicht gewußt zu haben, daß der gegenwärtige Zustand des Menschen sich von jenem seiner Schöpfung unterscheidet; derart, daß der eine gewisse Spuren der ursprünglichen Größe des Menschen bemerkt und dessen Verderbnis verkannt hat, und deshalb hat er die Natur so behandelt, als sei sie gesund und brauche keinen Heiland, was ihn auf den Gipfel des Hochmuts führt; der andere hat umgekehrt das gegenwärtige Elend des Menschen empfunden und dessen ursprüngliche Würde verkannt, und deshalb behandelt er die Natur so, als sei sie notwendig schwach und heilsunfähig, was ihn daran verzweifeln läßt, ein wahrhaftiges Gut zu erreichen, und das läßt ihn in äußerste Willenlosigkeit versinken. Da diese beiden Zustände des Menschen, die man zusammen erkennen müßte, um die ganze Wahrheit zu erfassen, also getrennt erkannt wurden, führen sie zwangsläufig zu einem dieser zwei Laster, dem Stolz und der Trägheit, denen alle Menschen unfehlbar verfallen sind, bevor die Gnade sie erleuchtet; wenn sie nämlich nicht aus Willenlosigkeit in ihren Ausschweifungen verharren, so überwinden sie diese durch ihre Eitelkeit; solch große Wahrheit kommt dem zu, was Sie mir vorhin von Augustinus gesagt haben und was ich für sehr weitreichend halte. Denn tatsächlich huldigt man diesen in vieler Hinsicht.

Auf Grund derart unvollkommener Einsichten geschieht es also, daß der eine, der die Pflichten des Menschen kennt und nicht dessen Ohnmacht, sich in der Anmaßung verliert und daß der andere, der die Ohnmacht des Menschen kennt und nicht dessen Pflicht, in Willenlosigkeit versinkt; da das eine zur Wahrheit und das andere zum Irrtum führt, scheint sich daraus zu ergeben, daß man, wenn man sie vereinigte, eine vollkommene Moral schaffen würde. Doch statt eines solchen Friedens würden sich aus ihrer Verbindung nur Krieg und allgemeine Vernichtung ergeben: Da der eine die Gewißheit und der andere den Zweifel begründet, der eine die Größe des Menschen und der andere dessen Schwäche, zerstört nun auch der eine die Wahrheit des anderen ebenso wie dessen Irrtümer. Sie können also wegen ihrer Fehler nicht allein bestehen und wegen ihrer Gegensätze sich auch nicht vereinigen, und so zerstören und vernichten sie sich gegenseitig, um der Wahrheit des Evangeliums den Platz zu überlassen. Diese bringt die Widersprüche durch eine ganz göttliche Kunst in Einklang, und indem sie alles vereinigt, was es an Wahrem gibt, und alles von sich weist, was es an Falschem gibt, macht sie daraus eine wahrhaft himmlische Weisheit, in der sich die Gegensätze ausgleichen, die in jenen menschlichen Lehren unvereinbar waren. Und der Grund dafür ist, daß jene Weltweisen die Widersprüche mit ein und derselben Ursache verbinden; denn der eine schrieb der Natur Größe zu und der andere dieser gleichen Natur Schwäche, was nicht nebeneinander bestehen konnte; statt dessen lehrt uns der Glaube, sie aus verschiedenen Ursachen herzuleiten: Alles, was es an Schwachem gibt, gehört ja der Natur; alles, was es an Mächtigem gibt, gehört ja der Gnade. Das ist die erstaunliche und neuartige Vereinigung, die Gott allein lehren und die er allein bewirken konnte, und sie ist nur ein Abbild und eine Wirkung der unsagbaren Vereinigung zweier Naturen in der einen Person eines Gottmenschen.

Ich bitte Sie um Verzeihung, Monsieur«, sagte Herr Pascal zu Herrn de Saci, »daß ich mich vor Ihnen so zur Theologie hinreißen lasse, anstatt bei der Philosophie zu bleiben, die allein mein Thema war; doch dieses Thema hat mich unmerklich zu ihr geführt; und es ist schwer, nicht auf sie einzugehen, welche Wahrheit man auch immer behandelt, weil sie der Mittelpunkt aller Wahrheiten ist; und das zeigt sich hier vollkommen, denn sie enthält ganz offenkundig all jene Wahrheiten, die in den genannten Anschauungen zu finden sind. Daher sehe ich nicht, wie einer von ihnen sich weigern könnte, ihr zu folgen. Wenn sie nämlich von dem Gedanken an die Größe des Menschen erfüllt sind, haben sie dann etwas ersinnen können, was nicht hinter den Verheißungen des Evangeliums zurückbliebe, die nichts anderes als der würdige Preis für den Tod eines Gottes sind? Und wenn sie Gefallen daran fanden, die Gebrechlichkeit der Natur zu sehen, so kommen ihre Vorstellungen doch nicht mehr jenen von der wahrhaftigen Schwäche der Sünde gleich, für die derselbe Tod das Heilmittel gewesen ist. So finden denn alle darin mehr, als sie verlangt haben; und was Bewunderung verdient: Sie finden sich darin vereint, sie, die sich auf einer unendlich tieferen Stufe nicht verbinden konnten.«

 

Herr de Saci konnte sich nicht enthalten, Herrn Pascal zu erklären, er sei überrascht, wie Herr Pascal die Dinge auszulegen wisse; gleichzeitig bekannte er jedoch, nicht jeder sei wie Herr Pascal in das Geheimnis eingeweiht, derart weise und erhabene Überlegungen aus einer solchen Lektüre zu gewinnen. Er sagte, Herr Pascal gleiche jenen tüchtigen Ärzten, die durch ihr Geschick, die stärksten Gifte richtig zu mischen, aus ihnen die stärksten Heilmittel gewinnen können. Er setzte hinzu, obgleich er deutlich sehe, weil Herr Pascal es ihm soeben gesagt habe, daß diesem eine solche Lektüre nützlich sei, könne er dennoch nicht glauben, daß sie für viele Leute vorteilhaft sei, deren Geist sich ein wenig mühsam dahinschleppe und nicht die nötige Höhe habe, um jene Autoren lesen, beurteilen und aus dem Misthaufen die Perlen herausfinden zu können, aurum ex stercore [»Gold aus dem Mist«], wie ein Kirchenvater es nannte. Dies dürfe man weitaus mehr von jenen Philosophen sagen, deren Misthaufen durch seinen schwarzen Dunst den schwankenden Glauben ihrer Leser verfinstern könne. Deshalb würde er solchen Leuten stets den Rat geben, sich nicht leichtfertig an eine derartige Lektüre zu wagen, um nicht gemeinsam mit jenen Philosophen unterzugehen und, nach der Ausdrucksweise der Heiligen Schrift, das Ziel der bösen Geister und die Speise der Würmer zu werden, wie es jenen Philosophen geschehen sei.

 

»Was den Nutzen einer solchen Lektüre angeht«, sagte Herr Pascal, »so werde ich Ihnen ganz offen sagen, was ich denke. Bei Epiktet finde ich eine unvergleichliche Kunst, die Ruhe jener zu stören, die diese Ruhe bei den äußerlichen Dingen suchen, um sie zu der Erkenntnis zu zwingen, daß sie wahrhaftige Sklaven und elende Blinde sind, daß sie unmöglich etwas anderes als Irrtum und Schmerz finden, vor denen sie fliehen, wenn sie sich nicht vorbehaltlos Gott allein hingeben. Montaigne ist darin unvergleichlich, daß er den Stolz jener beschämt, die keinen Glauben haben und sich einbilden, wahrhaftige Gerechtigkeit zu besitzen, daß er jene aus ihrem Irrtum reißt, die mit aller Kraft an ihren Anschauungen festhalten und glauben, in den Wissenschaften unerschütterliche Wahrheiten zu finden, und daß er die Vernunft so klar überführt, wie wenig Einsicht sie hat und welchen Verirrungen sie unterliegt, so daß man schwerlich, wenn man von seinen Prinzipien einen guten Gebrauch macht, in Versuchung gerät, sich von den Mysterien abgestoßen zu fühlen: Denn der Geist wird von ihnen so sehr überwunden, daß er weit davon entfernt ist, darüber urteilen zu wollen, ob die Menschwerdung Christi oder das Mysterium der Eucharistie möglich ist, was die gewöhnlichen Leute nur allzuoft erörtern.

Indem Epiktet jedoch die Trägheit bekämpft, führt er zum Stolz, und daher kann er jenen sehr schädlich sein, die nicht von der Verderbnis selbst der vollkommensten Gerechtigkeit überzeugt sind, wenn diese nicht aus dem Glauben kommt. Und Montaigne ist ganz und gar unheilvoll für jene, die eine gewisse Neigung zur Gottlosigkeit und zu den Lastern haben. Darum muß eine derartige Lektüre mit großer Sorgfalt, Mäßigung und Rücksicht auf die Stellung und die Sitten jener, denen man sie anrät, geregelt werden. Es scheint mir lediglich, wenn man die Lektüre des einen und des anderen miteinander verbindet, so könnte das nicht allzu übel ausgehen, weil die Lektüre des einen sich der Schädlichkeit des anderen widersetzt: nicht, daß sie zusammen Tugend geben können, doch sie können immerhin Verwirrung stiften, wenn man den Lastern ergeben ist: Die Seele wird ja von diesen Gegensätzen bedrängt, deren einer den Stolz und der andere die Trägheit vertreibt; und durch ihre Überlegungen kann sie keine Ruhe bei einem dieser Laster finden und auch nicht vor ihnen allen fliehen.«

 

So einigten sich schließlich diese beiden wahrhaft geistvollen Männer über das Problem, ob man jene Philosophen lesen solle, und trafen sich an einem gemeinsamen Endpunkt, den sie gleichwohl mit etwas unterschiedlichen Methoden erreichten: Herr de Saci war ja mit einem Male durch die klare Einsicht des Christentums dorthin gelangt, und Herr Pascal erst nach vielen Umwegen, indem er sich an die Prinzipien jener Philosophen hielt.

Als Herr de Saci und ganz Port-Royal-des-Champs somit vollkommen von der Freude erfüllt waren, die Herrn Pascals Bekehrung und Einsichten hervorriefen, und man an ihm die allmächtige Kraft der Gnade bewunderte, die durch eine Barmherzigkeit, für die es wenig Beispiele gibt, diesen an sich so erhabenen Geist so tief erniedrigt hatte, usw. ...


"Gespräch mit Herrn de Saci über Epiktet und Montaigne"




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